Unsichtbare Nutzflächen sind ein interessantes Konzept zum Verständnis verschiedener Phänomene und Risiken moderner Industriegesellschaften.
Aufmerksam geworden auf das Problem der Unsichtbaren Nutzflächen bin ich durch das Unterkapitel Unsichtbare Nutzflächen (Invisible Acreage) im Kapitel Abhängigkeit von Phantomtragkraft (Dependence on Phantom Carrying Capacity) in Willam Cattons Buch Overshoot: The Ecological Basis of Revolutionary Change.
Die Unsichtbaren Nutzflächen eines Landes, wie Catton sie sieht, sind:
- Die land- und fortswirtschaftlichen Flächen, die benötigt werden um die Nettoimporte aller land- und forstwirtschaftlichen Produkte eines Landes zu erzeugen. Nettoimport ist das, was mehr ein- als ausgeführt wird. Das Umweltbundesamt nennt in seinem sehr lesenswerten, 110seitigen, kostenlos herunterladbaren Positionspapier, Globale Landflächen und Biomasse nachhaltig und ressourcenschonend nutzen, eine schier unglaubliche Zahl: Auf S. 25 steht dort “Der Flächenbedarf ….. für die Produktion und Nutzung von Biomasse als Nahrungsmittel, als Futtermittel, als Rohstoff für die chemische Industrie und die werkstoffliche Nutzung sowie als Energieträger ….. Deutschland und UK (Großbritannien) importieren jeweils 80 Mio. ha pro Jahr. Davon kommen jeweils 10 Mio. ha aus anderen EU-Staaten, während der größte Anteil, die verbleibenden 70 Mio. ha, von außerhalb Europas kommen.” Wenn diese Zahlen stimmen sollten, würde auf jeden Einwohner Deutschlands eine unsichtbare, weil irgendwo im Ausland liegende land- und forstwirtschaftliche Fläche von ungefähr einem Hektar kommen. Deutschland selbst hat gerade mal eine Fläche von 35,7 Millionen Hektar, einschließlich Straßen, Gebäude, Gewässer, Ödland, Industriegebiete, Friedhöfe, Sportplätze usw.. Das heißt, pro Einwohner hat Deutschland lediglich eine Fläche von nur 0,446 Hektar. Die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche in Deutschland beträgt laut Umweltbundesamt ca. 17 Millionen Hektar, das sind nur 0,212 Hektar pro Einwohner. Die Waldfläche beträgt ca. 10,7 Millionen Hektar, bzw. 0,134 Hektar pro Einwohner. Deutschland bräuchte also ca. 1,58 Hektar land- und forstwirtschaftliche Fläche pro Kopf, während es nur ca. 0,58 Hektar pro Kopf hat. Vorausgesetzt, die Zahlen aus dem Positionspapier des Umweltbundesamtes stimmen und vorausgesetzt, man “vergisst” die anderen, nicht sichtbaren Flächen, die weiter unten erwähnt werden, zu berücksichtigen. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina nennt in der überarbeiteten, kritischen Stellungnahme zu den Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung von Bioenergie auf S. 32, in Kapitel 1.9, Importe von [nachwachsender] Biomasse, der überarbeiteten deutschen Ausgabe von 2013, andere Zahlen. Demnach importiert Deutschland nur ungefähr 37 % seines Verbrauchs an nachwachsender Biomasse, “um seinen
gegenwärtigen Verbrauch an [nachwachsender] Biomasse
(100 %) zu decken.” . Wie die Tabelle 1.2 der selben Publikation deutlich zeigt, sind damit aber ausdrücklich nicht die in fossilen Brennstoffen enthaltenen Biomassen, sondern nur kürzlich erzeugten Biomassen enthalten. Deshalb habe ich oben das Wort “nachwachsende” in eckigen Klammer eingefügt. Zu den nicht nachwachsend Biomassen aus prähistorischen Zeiten weiter unten, unter 3. mehr. - Die Wasserflächen für Fischereiprodukte. Diese liegen teilweise auf den Weltmeeren und dabei oft in den 200-Meilenzonen von Ländern die angesichts sinkender Fischbestände und oft steigender Bevölkerungen mehr für sich selber brauchen. Auch sind da noch die Chinesen und andere aufstrebende Mächte, die auch mehr Fisch essen wollen, obwohl die Weltmeere immer mehr leer gefischt und die Gewässer in China und anderswo oft schlechter werden.
- Die größten unsichtbaren Nutzflächen vieler Staaten, und auch Deutschlands, liegen heute unter der Erde und dabei dann zum größten Teil auch wieder in anderen Ländern. Das sind nämlich die Flächen, auf denen die Natur vor vielen Millionen Jahren aus Pflanzen unter Mitwirkung von Mikroorganismen die fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas geschaffen hat. Auf diesen unterirdischen Flächen wird nichts mehr neu angebaut und es wächst nichts mehr nach. Es wird dort seit Beginn des Industriezeitalters vor über 200 Jahren nur abgeerntet. Um den Mangel an Nachhaltigkeit und die Zukunftsperspektiven bewusst zu machen, macht es Sinn, diese Flächen so zu berechnen, als gäbe es irgendwo entsprechende Flächen, auf denen man erneuerbare Energien ernten könnte. Das oben erwähnte Positionspapier des Umweltbundesamtes enthält bereits einige Berechnungen und Zahlen in diesem Sinne: Der Grafk auf Seite 58, Abbildung 9, kann man z.B. entnehmen, dass man für Biokraftstoff für die PKW in Deutschland im Jahr 2010 immerhin 16 Millionen Hektar Land gebraucht hätte. Für den Güterverkehr wären es noch einmal 8, für den Seeverkehr 5 und für den Flugverkehr 4 Millionen Hektar gewesen. Zusammen also ca. 33 Millionen Hektar. Das wäre etwa das doppelte der gesamten, tatsächlich vorhandenen Nutzfläche. Diese reicht aber noch nicht einmal für die eigene Nahrungsversorgung aus. Der WWF schreibt in seiner Broschüre “Fleisch frisst Land“, auf S. 55 “Über alle Fleischarten hinweg importiert Deutschland virtuell Fläche in einer Größenordnung von 210.000 ha (vgl. Abbildung 5.5). Das entspricht fast der
Flächengröße des Saarlandes und in etwa der Gesamtfläche der drei Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg.” . An Holz für Heizung der Häuser und an die Industrie ist dabei noch gar nicht gedacht. Außerdem ist unklar, ob das Umweltbundesamt daran gedacht hat, dass für die Erzeugung von Kraftstoff aus landwirtschaftlichen Produkten wiederum große Mengen Kraftstoff nötig sind, während die das Verhältnis von aufzuwendender Energie zu geernteter Energie (EROI) gerade bei der Herstellung von Kraftstoff aus Biomasse sehr schlecht ist. Allerdings ist es so, dass das Umweltbundesamt in seinem oben erwähnten Positionspapier, ebenso wie die Nationalakademie Leopoldina in ihrer kritischen Stellungnahme zur Energieerzeugung aus Biomasse zu dem Schluss kommt, dass Biomasse, nach Abwägung aller Vor- und Nachteile besser nicht im großen Maßstab als erneuerbare Energie genutzt werden sollte, und dass sie oft sogar mehr dem Klima und der Umwelt schadet als nutzt. Die kritischen Stellungnahme zu den Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung von Bioenergie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zeigt auf S. 18 der deutschen Ausgabe von 2013, in Tabelle 1.2, Tabelle 1.2: Nettoprimärproduktion (NPP) und Primärenergieverbrauch in Deutschland im Jahr 2010, das extreme Ausmaß der Abhängigkeit unserer Gesellschaft von der heute unterirdischen, vor vielen Millionen Jahren entstandenen Biomasse. Von den 14 Exa-Joule der insgesamt in Deutschland verbrauchten Primärenergie stammte nur ein einziges Exa-Joule aus nachwachsender Biomasse (hauptsächlich Holz, Biogas, Biokraftstoff und Verwertung von Abfällen) . Die durch Photosynthese produzierte und durch Abgrasen der Weiden, durch Ernte der Felder und durch Holzeinschlag nutzbare, nachwachsende Gesamtenergie betrug nach dieser Tabelle 3,3 Exa-Joule. Davon waren für Tierfutter 2 Exa-Joule nötig. D.h., auch wenn wir Veganer würden und statt dessen alles Tierfutter in Brennstoff umwandeln würden, würde die eingesparte Energie gerade einmal lächerliche 2 von 14 Exa-Joule unseres Gesamtbedarfs decken. Die in der Tabelle angeführten 0,7 Exa-Joule für Stroh habe ich weggelassen, weil die unbedingt mindestens für die Erhaltung der Böden auf den Feldern belassen bzw. dorthin zurückgebracht werden müssen. Das sieht man auch so bei Leopoldina.
Fazit und weitergehende Betrachtungen
Die genauen Zahlen sind nicht sicher. Sicher ist aber, dass Deutschland ein Vielfaches seiner derzeitigen Fläche benötigen würde, wenn es die heutige Bevölkerung und den heutigen Lebensstandard nachhaltig, das heißt dauerhaft aufrecht erhalten wollte.
Das passt zu der Entwicklung der Bevölkerungsdichte in Deutschland seit Beginn des Industriezeitalters. Der Liste der Volkszählungen seit 1834 kann man entnehmen, dass Deutschland im Jahre 1834 eine Bevölkerungsdichte von 56 Einwohnern pro qkm hatte. Bezogen auf die heutige Fläche wären das knapp 20 Millionen Einwohner. Die Bevölkerung müsste also um 62 Millionen Einwohner schrumpfen, wenn man zu einer nachhaltigen Bevölkerungsdichte unter den Gegebenheiten von 1834 zurück wollte. Tatsächlich ist aber heute ein sehr viel größerer Flächenanteil als damals versiegelt, verseucht oder erodiert. Anderseits haben wir in den letzten 200 Jahren Wissen hinzugewonnen, mit dem wir die Bodenqualität und die Erträge nachhaltig auch dann verbessern und in sehr gutem Zustand halten könnten, wenn uns keine fossilen Energieträger und andere für die heutige Landwirtschaft unverzichtbaren Importgüter mehr zur Verfügung stünden. Siehe dazu meinen Artikel Weltweite Verschlechterung der Bodenqualität. Die Zahl von 62 Millionen entspricht übrigens ungefähr der weltweiten Gesamtzahl der Toten aus beiden Weltkriegen, oder dem 10-fachen der Opferzahl des Holocausts. Die Zahl ist entspricht außerdem in etwa der Opferzahl, die ein EMP-Angriff in einem mittelmäßig günstigen Fall voraussichtlich Fall binnen eines Jahres in Deutschland fordern würde. Siehe dazu insbesondere meine Artikel Eine Sekunde danach und Weitere Literatur zum Thema EMP. In Letzterem ist auch ein Link auf eine deutsch synchronisierte Fernsehdokumentation angegeben. Die bemerkenswerteste Entdeckung für mich, bei der Beschäftigung mit all diesen Themen ist, dass die Suche nach Möglichkeiten zur Vorbeugung und Problemlösung immer wieder zu der Einsicht führt, dass man Landwirtschaft und Gartenbau im Sinne der Methoden reformieren und fördern müsste, auf die ich in meinen Artikeln Ärztemangel auf dem Land und Weltweite Verschlechterung der Bodenqualität hingewiesen habe. Das nicht zu tun, oder zu lange damit zu warten und die Chancen, die wir noch haben nicht zu nutzen, dürfte der tödlichste, der mit weitem Abstand die meisten Menschenleben kostende Fehler sein, den die Deutschen jemals in ihrer Geschichte gemacht haben.
9. April 2015, letzte Änderung 11. April 2015 Christoph Becker
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Ein Kompendium sehr ausgefallener Themen.
Es macht wirklich Spaß die Artikel zu lesen.
[…] die Kohle ablöst. Aber wir leben nicht nur von fossilen Rohstoffen, sondern auch von den nachwachsenden Ressourcen anderer Länder. Unser Holz kommt aus Russland, unser Bioethanol aus Südamerika und unser Palmöl aus Indonesien. […]