Pepe Escobar: Wie der Westen geschlagen wurde

Lesedauer 7 Minuten
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Übersetzung des am 18.1.2024 auf Sputnik International veröffentlichten Artikels “Pepe Escobar: How the West Was Defeated” über Emmanuel Todds neues Buch La Défaite de L’Occident (“Die Niederlage des Westens”).

Link auf das Original: sputnikglobe.com/20240118/how-the-west-was-defeated-1116245840.html

Beginn der Übersetzung (mit Hilfe von deepl, überarbeitet):

Emmanuel Todd, Historiker, Demograf, Anthropologe, Soziologe und politischer Analyst, gehört zu einer aussterbenden Art: Er ist einer der wenigen verbliebenen Vertreter der französischen Intelligenzia der alten Schule – ein Erbe von Leuten wie Braudel, Sartre, Deleuze und Foucault, die die jungen Generationen des Kalten Krieges vom Westen bis zum Osten faszinierten.

Das erste, was sein neuestes Buch La Défaite de L’Occident (“Die Niederlage des Westens”) betrifft, ist das kleine Wunder, dass es letzte Woche in Frankreich veröffentlicht wurde, und zwar genau in der NATO-Sphäre: eine Handgranate von einem unabhängigen Denker, die auf Fakten und überprüften Daten beruht und die ganze Russophobie, die um die “Aggression” von “Zar” Putin herum aufgebaut wurde, in die Luft jagt.

Zumindest einige Teile der streng oligarchisch kontrollierten Konzernmedien in Frankreich konnten Todd dieses Mal aus mehreren Gründen einfach nicht ignorieren. Vor allem, weil er der erste westliche Intellektuelle war, der bereits 1976 in seinem Buch “La Chute Finale” den Untergang der UdSSR vorhersagte, wobei er sich auf die sowjetische Kindersterblichkeit stützte.

Ein weiterer wichtiger Grund war sein 2002 erschienenes Buch Apres L’Empire, eine Art Vorschau auf den Niedergang und Fall des Imperiums, das einige Monate vor Shock & Awe im Irak veröffentlicht wurde.

In seinem letzten Buch (“Ich habe den Kreis geschlossen”) geht Todd nun aufs Ganze und schildert minutiös die Niederlage nicht nur der USA, sondern des gesamten Westens – wobei sich seine Recherchen auf den Krieg in der Ukraine konzentrieren.

In Anbetracht des toxischen NATO-Umfelds, in dem Russophobie und Abschaffungskultur ( Cancel Culture ) vorherrschen und jede Abweichung strafbar ist, hat Todd sehr darauf geachtet, den aktuellen Prozess nicht als russischen Sieg in der Ukraine darzustellen (obwohl dies in allem, was er beschreibt, impliziert ist, von verschiedenen Indikatoren für sozialen Frieden bis hin zur allgemeinen Stabilität des “Putin-Systems”, das “ein Produkt der Geschichte Russlands und nicht das Werk eines einzelnen Mannes” ist).

Vielmehr konzentriert er sich auf die Hauptgründe, die zum Untergang des Westens geführt haben. Dazu gehören: das Ende des Nationalstaats, die Deindustrialisierung (was das Defizit der NATO bei der Waffenproduktion für die Ukraine erklärt), der “Nullpunkt” der religiösen Matrix des Westens, der Protestantismus, der starke Anstieg der Sterblichkeitsrate in den USA (viel höher als in Russland), zusammen mit Selbstmorden und Tötungsdelikten, und die Vorherrschaft eines imperialen Nihilismus, der sich in der Besessenheit von ” Ewigen Kriegen” ausdrückt.

Der Zusammenbruch des Protestantismus

Todd analysiert methodisch, der Reihe nach, Russland, die Ukraine, Osteuropa, Deutschland, Großbritannien, Skandinavien und schließlich das Empire. Konzentrieren wir uns auf die 12 größten Hits seiner bemerkenswerten Arbeit.

1. Zu Beginn der militärischen Sonderoperation ( = des Ukrainekriegs ) im Februar 2022 betrug das kombinierte BIP von Russland und Weißrussland nur 3,3 % des kombinierten Westens (in diesem Fall die NATO-Sphäre plus Japan und Südkorea). Todd ist erstaunt, dass diese 3,3 %, mehr Waffen produzieren können als der gesamte westliche Koloss, und dass sie damit nicht nur den Krieg gewinnen, sondern auch die vorherrschenden Vorstellungen der “neoliberalen politischen Ökonomie” (BIP-Raten) zunichte machen.

2. Die “ideologische Einsamkeit” und der “ideologische Narzissmus” des Westens, der nicht in der Lage ist zu verstehen, dass “die gesamte muslimische Welt Russland eher als Partner denn als Gegner zu sehen scheint”.

3. Todd verschmäht den Begriff der “Weberschen Staaten” – was eine köstliche Kompatibilität der Visionen von Putin und dem US-Realpolitiker John Mearsheimer heraufbeschwört. Weil sie gezwungen sind, in einem Umfeld zu überleben, in dem nur Machtbeziehungen zählen, handeln die Staaten jetzt als “Hobbessche Agenten”. Und damit sind wir bei der russischen Vorstellung von einem Nationalstaat, die sich auf “Souveränität” konzentriert: die Fähigkeit eines Staates, seine Innen- und Außenpolitik unabhängig und ohne jegliche Einmischung von außen zu bestimmen.

4. Die schrittweise Implosion der WASP-Kultur,  (die “seit den 1960er Jahren” zu “einem Imperium ohne Zentrum und Projekt, einem im Wesentlichen militärischen Organismus, der von einer Gruppe ohne Kultur (im anthropologischen Sinne) geleitet wird”, führte. So definiert Todd die amerikanischen Neocons.

5. Die USA als “post-imperiales” Gebilde: nur noch eine Hülle aus Militärmaschinen, die einer intelligenzgesteuerten Kultur beraubt sind, was zu einer “akzentuierten militärischen Expansion in einer Phase der massiven Schrumpfung ihrer industriellen Basis” führt. Wie Todd betont, ist “moderner Krieg ohne Industrie ein Oxymoron“.

6. Die demografische Falle: Todd zeigt, wie die Strategen in Washington “vergaßen, dass ein Staat, dessen Bevölkerung ein hohes Bildungs- und Technologieniveau hat, auch wenn es abnimmt, seine militärische Macht nicht verliert”. Das ist genau der Fall von Russland während der Putin-Jahre.

7. Hier erreichen wir den Kern von Todds Argumentation: seine post-Max-Weber-Neuinterpretation von Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, veröffentlicht vor etwas mehr als einem Jahrhundert, 1904/1905: “Wenn der Protestantismus die Matrix für den Aufstieg des Westens war, dann ist sein Tod heute die Ursache für den Zerfall und die Niederlage.”

Todd legt klar dar, wie die englische “Glorreiche Revolution” von 1688, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Revolution von 1789 die wahren Pfeiler des liberalen Westens waren. Folglich ist ein erweiterter “Westen” historisch gesehen nicht “liberal”, weil er auch den “italienischen Faschismus, den deutschen Nazismus und den japanischen Militarismus” hervorgebracht hat.

Zusammenfassend zeigt Todd, wie der Protestantismus den von ihm kontrollierten Bevölkerungen die allgemeine Alphabetisierung auferlegte, “weil alle Gläubigen direkten Zugang zur Heiligen Schrift haben müssen. Eine gebildete Bevölkerung ist zu wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung fähig. Die protestantische Religion modellierte zufällig eine überlegene, effiziente Arbeiterschaft”. Und in diesem Sinne stand Deutschland “im Zentrum der westlichen Entwicklung”,  auch wenn die industrielle Revolution in England stattfand.

Todds zentrale Formulierung ist unumstritten: “Der entscheidende Faktor für den Aufstieg des Westens war das Festhalten des Protestantismus an der Alphabetisierung.”

Darüber hinaus ist der Protestantismus, wie Todd betont, in zweifacher Hinsicht das Herzstück der Geschichte des Westens: durch den erzieherischen und wirtschaftlichen Antrieb – wobei die Angst vor der Verdammnis und das Bedürfnis, sich von Gott auserwählt zu fühlen, eine Arbeitsethik und eine starke, kollektive Moral hervorbringen – und durch die Vorstellung, dass die Menschen ungleich sind (man erinnere sich an die Bürde des weißen Mannes).

Der Zusammenbruch des Protestantismus konnte nicht umhin, die Arbeitsethik zugunsten der Massengier zu zerstören: das ist der Neoliberalismus.

Transgenderismus und der Kult der Fälschung

8. Todds scharfe Kritik am Geist von 1968 wäre ein ganzes neues Buch wert. Er verweist auf “eine der großen Illusionen der 1960er Jahre – zwischen der angloamerikanischen sexuellen Revolution und dem Mai 68 in Frankreich”: “zu glauben, dass das Individuum größer sein würde, wenn es sich vom Kollektiv befreit”. Das führte zu einem unvermeidlichen Debakel: “Jetzt, wo wir massenhaft von metaphysischen Überzeugungen befreit sind, von grundlegenden und abgeleiteten, kommunistischen, sozialistischen oder nationalistischen, leben wir die Erfahrung der Leere.” Und so sind wir “eine Schar mimetischer (=nachahmender) Zwerge geworden, die es nicht wagen, selbst zu denken – aber sich als ebenso intolerant erweisen wie die Gläubigen vergangener Zeiten.”

9. Todds kurze Analyse der tieferen Bedeutung des Transgenderismus zerstört die “Church of Woke” vollständig – von New York bis in die EU-Sphäre – und wird serienweise Wutanfälle hervorrufen. Er zeigt, wie Transgenderismus “eine der Flaggen dieses Nihilismus ist, der den Westen jetzt bestimmt, dieser Drang, nicht nur Dinge und Menschen zu zerstören, sondern auch die Realität.”

Und es gibt einen zusätzlichen analytischen Bonus: “Die Transgender-Ideologie besagt, dass ein Mann zu einer Frau und eine Frau zu einem Mann werden kann. Dies ist eine falsche Behauptung und in diesem Sinne nahe am theoretischen Kern des westlichen Nihilismus”. Es wird noch schlimmer, wenn es um die geopolitischen Verzweigungen geht. Todd stellt eine spielerische mentale und soziale Verbindung zwischen diesem Kult der Fälschung und dem wackeligen Verhalten des Hegemons in den internationalen Beziehungen her. Beispiel: Das iranische Nuklearabkommen unter Obama wird unter Trump zu einem Hardcore-Sanktionsregime. Todd: “Die amerikanische Außenpolitik ist auf ihre Weise geschlechtsneutral.”

10. Europas “assistierter Selbstmord”. Todd erinnert uns daran, dass Europa anfangs ein deutsch-französisches Paar war. Nach der Finanzkrise 2007/2008 wurde daraus “eine patriarchalische Ehe, in der Deutschland als dominanter Ehepartner nicht mehr auf seine Partnerin hört”. Die EU gab den Anspruch auf, die Interessen Europas zu verteidigen, indem sie sich von der Energieversorgung und dem Handel mit ihrem Partner Russland abschnitt und sich selbst mit Sanktionen belegte. Todd stellt richtig fest, dass die Achse Paris-Berlin durch die Achse London-Warschau-Kiew ersetzt wurde: Das war “das Ende Europas als eigenständiger geopolitischer Akteur”. Und das geschah nur 20 Jahre nach dem gemeinsamen Widerstand von Frankreich und Deutschland gegen den Neokonservativen Krieg gegen den Irak.

11. Todd definiert die NATO korrekt, indem er in “ihr Unbewusstes” eintaucht: “Wir stellen fest, dass ihr militärischer, ideologischer und psychologischer Mechanismus nicht existiert, um Westeuropa zu schützen, sondern um es zu kontrollieren.”

12. In Übereinstimmung mit mehreren Analysten in Russland, China, Iran und unter den Unabhängigen in Europa ist sich Todd sicher, dass die seit den 1990er Jahren bestehende Besessenheit der USA, Deutschland von Russland abzuschneiden, zum Scheitern verurteilt ist: “Früher oder später werden sie zusammenarbeiten, da “ihre wirtschaftlichen Spezialisierungen sie als komplementär definieren”. Die Niederlage in der Ukraine wird den Weg ebnen, da eine “Gravitationskraft” Deutschland und Russland wechselseitig verführt.

Davor und im Gegensatz zu praktisch allen westlichen “Analysten” in der Mainstream-Sphäre der NATO versteht Todd, dass Moskau gegen die gesamte NATO und nicht nur gegen die Ukraine gewinnen wird, indem es von einem Zeitfenster profitiert, das Putin für Anfang 2022 ausgemacht hat. Todd setzt auf ein Zeitfenster von 5 Jahren, d.h. ein Endspiel bis 2027. Aufschlussreich ist der Vergleich mit Verteidigungsminister Schoigu, der letztes Jahr zu Protokoll gab, dass die Militärische Sonderoperation [= der Ukrainekrieg] bis 2025 beendet sein wird.

Unabhängig von der Frist ist in all dem ein totaler russischer Sieg enthalten, bei dem der Sieger alle Bedingungen diktiert. Keine Verhandlungen, kein Waffenstillstand, kein eingefrorener Konflikt – so wie es der Hegemon jetzt verzweifelt anstrebt.

Davos inszeniert den Triumph des Westens

Todds großes Verdienst ist es, das falsche Bewusstsein der westlichen Gesellschaft mit Hilfe von Geschichte und Anthropologie auf den Teppich zu bringen. Indem er sich beispielsweise auf die Untersuchung ganz bestimmter Familienstrukturen in Europa konzentriert, gelingt es ihm, die Realität auf eine Weise zu erklären, die den gehirngewaschenen kollektiven Massen des Westens, die im Turbo-Neoliberalismus verharren, völlig entgeht.

Es versteht sich von selbst, dass Todds realitätsbezogenes Buch bei den Davoser Eliten keinen Anklang finden wird. Was diese Woche in Davos passiert ist, war ungemein aufschlussreich. Alles liegt offen auf dem Tisch.

Von den üblichen Verdächtigen – der giftigen EU-Medusa von der Leyen, dem kriegstreiberischen NATO-Chef Stoltenberg, BlackRock, JP Morgan und anderen Bonzen, die ihrem verschwitzten Sweatshirt-Spielzeug aus Kiew die Hand schütteln – ist die Botschaft vom “Triumph des Westens” monolithisch.

Krieg ist Frieden. Die Ukraine verliert nicht (Hervorhebung von mir) und Russland gewinnt nicht. Wenn Sie mit uns nicht einverstanden sind – bei irgendetwas – werden Sie wegen “Hassrede” zensiert. Wir wollen die Neue Weltordnung – was auch immer ihr niederen Bauern denkt – und wir wollen sie jetzt.

Und wenn alles scheitert, kommt eine vorgefertigtes Krankheit X, um Sie zu holen.

Ende der Übersetzung.

Kelberg, den 26.01.2024

Christoph Becker

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Quintus
Quintus
13. Februar 2024 9:16

Hallo Hr.Becker
Emanuell Todd läßt Einen wieder hoffen! Andererseits gilt es zu bedenken:
Wir sehen nun in Zeitlupe, aber mit zunehmender Geschwindigkeit, den Verlust von relevantem Wissen und die Zerstörung von absolut notwendigen kleinteiligen Wirtschaftsstrukturen.

In der realen deutschen Arbeitswelt in der ich ohne Unterbrechung seit 42 Jahren tätig bin funktioniert NICHTS mehr! Die Ausfälle von Mitarbeitern durch eine gentechnische Spritzenbehandlung, Lieferschwierigkeiten, Verständigungsprobleme unter den Mitarbeitern aus unzähligen Ländern, dazu die wettbewerbsverzerrenden Energiepreise schnüren uns langsam aber sicher die Luft zum Atmen ab.

Dir Deindustrialisierung ist wie ein Strudel unterhalb einer Staustufe. Wenn wir hineingeraten, wird er uns immer schneller nach unten ziehen. Sobald wir die Kante des Strudels erreicht haben ist der Abwärtstrend ohne fremde Hilfe nicht mehr zu stoppen. Diesemal hilft kein “Wedeln mit den großen Scheinen”.
Die meisten Deutschen halten dies für Fakenews, doch schon bald werden Wir “nichts mehr besitzen aber glücklich sein”
Es stellt sich die Frage ob man in der DDR 2.0 zwischen 2025 und 2027 noch überleben kann. Jedenfalls wird es äußerst schwierig werden, da sich in unserem System sehr viele Schmarotzer und Trittbrettfahrer breitgemacht haben, welche immer rücksichtsloser gegenüber dem Teil der Bevölkerung agieren, die den Laden noch finanzieren.
Mfg
Quintus

Olli Garchie
Olli Garchie
18. Februar 2024 12:57

Zum Punkt 7 Max Webers Gesellschaftsanalyse von 1905: Nun bin ich im Studium immer wieder Max Weber Schriften begegnet wie z. B. “Politik als Beruf”. Aber sein Buch “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus” kam nicht vor. Das Buch habe ich vor ca. 10 Jahren im Urlaub auf einem Wühltisch in Travemünde gesehen und gekauft. Es wurde für mich eine der wichtigsten Analysen um den Aufstieg der westlichen Welt seit dem 19. Jh. zu verstehen. Er geht konkret auf die religiösen Quellen durch den Calvinismus (“Die Mayflower”) ein und zitiert Benhamin Franklin (“Bedenke, Dass die Zeit Geld ist;….S. 38-40). Wenn diese Kraft versiegt geht es unweigerlich bergab. Aber ich bin noch nicht überzeugt ob das auch wurklich so unweigerlich passiert. Wir werden jetzt sehen was in Argentinien, Ecuador und eben auch in den USA und GB selbst passiert. Hoffentlich gibt es kein militärisches Endspiel.
Gibt es das Buch auch auf Deutsch demnächst ?