John Michael Greer hat am 6. April 2022 auf ecosophia.net de in folgenden übersetzten Artikel über das Ende des europäschen Zeitalters veröffentlicht, in dem er die russische Militäraktion in der Ukraine in einem großen historischen und geopolitischen Rahmen einordnet.
Titel des Originals: The End of the European Age
Link auf das Original: www.ecosophia.net/the-end-of-the-european-age/
Das Ende des europäischen Zeitalters
6. April 2022 von John Michael Greer
Alles in allem ist dies ein guter Zeitpunkt, um über das geopolitische Gesamtbild zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist der russisch-ukrainische Krieg noch im Gange. Der Angriff auf Kiew scheint auf Eis gelegt worden zu sein, damit sich die Russen darauf konzentrieren können, die ukrainischen Verteidiger aus der Donbass-Region zu vertreiben, während im Süden des Landes, wo die russischen Streitkräfte entlang beider Ufer des Dnjepr nach Norden vorstoßen, heftige Kämpfe toben. Nach einem Monat harter Kämpfe hat Russland fast dreißig Prozent des ukrainischen Territoriums erobert und zeigt keine Anzeichen für einen Rückzug, während die Sanktionen der USA und ihrer Klientenstaaten in Europa und im westlichen Pazifik die russische Regierung nicht von ihrem Kurs abbringen konnten.
Inzwischen sind die Auswirkungen dieser Sanktionen weltweit zu einem massiven wirtschaftlichen Faktor geworden, und es ist keineswegs sicher, dass Russland dadurch etwas verloren hat. Indien, die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat gerade Vorkehrungen getroffen, um den Handel mit Russland außerhalb des SWIFT-Interbankensystems in Rupien und Rubel statt in US-Dollar abzuwickeln. China, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, verfügt bereits über ein solches System. Die Verknappung von Dieselkraftstoff und einem halben Dutzend anderer aus Russland stammender Rohstoffe löst in verschiedenen Teilen der Welt Wirtschaftskrisen aus, während das Gespenst einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit immer ernster wird – die Ukraine ist der drittgrößte Weizenexporteur der Welt, während Russland in dieser Kategorie an erster Stelle steht und außerdem einen Großteil der Düngemittel weltweit liefert. Sowohl die USA als auch Großbritannien haben ihre strategischen Erdölreserven angezapft, um die Ölpreise niedrig zu halten, aber es bleibt abzuwarten, ob dies mehr als eine Notlösung sein wird.
Im Moment ist es üblich, diese Ereignisse als vorübergehendes Hindernis auf dem Weg zu einer Zukunft des „weiter wie bisher“ („business as usual“) zu betrachten oder sie auf die vermeintliche persönliche Abscheulichkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu schieben. Solche Ausreden sind ebenso einfach wie hoffnungslos falsch. Sie verraten unter anderem eine verblüffende Unkenntnis der Geschichte, denn es ist nicht das erste Mal, dass eine Ära der wirtschaftlichen Globalisierung unter dem Druck der Geopolitik zerbrochen ist. Mehrere nachdenkliche Autoren haben bereits die Parallelen zwischen der gegenwärtigen Krise und dem Zusammenbruch der viktorianischen Wirtschaftsglobalisierung vor einem Jahrhundert festgestellt.
Der Vergleich ist treffend. Wie John Maynard Keynes 1913 in seinem zu Recht berühmten Werk „The Economic Consequences of the Peace“ (Die wirtschaftlichen Folgen des Friedens) feststellte, konnte ein wohlhabender Engländer, der beim Frühstück die „Times“ vor sich liegen hatte, genauso frei Vermögenswerte rund um den Globus kaufen und verkaufen wie sein Pendant in den Vereinigten Staaten im Jahr 2013. Das Pfund Sterling war damals die unverzichtbare Weltwährung; das weltweite Telegrafennetz der viktorianischen Ära erfüllte die Rolle des Internets, indem es Kauf- und Verkaufsaufträge mit Lichtgeschwindigkeit über Meere und Kontinente hinweg verschickte. Freihandelsabkommen, die weitaus unflexibler waren als die heutigen Beispiele, beseitigten Hindernisse für Investitionen und Ausbeutung. Die britische Armee und Marine, unterstützt durch modernste Militärtechnologie, bildeten den Rückhalt für all dies. Die einzige Wolke am Horizont war die aufstrebende Macht Deutschlands, das nicht bereit war, sich mit einem Status zweiter Klasse in einer Welt zu begnügen, die in erster Linie für Großbritanniens Bequemlichkeit und Profit bestimmt war.
Dann kam das Jahr 1914, ein Terrorist erschoss den österreichischen Thronfolger, und nach und nach zogen die meisten europäischen Staaten in den Krieg. Der freie Handel konnte nicht überleben, als die Geopolitik in den Mittelpunkt rückte: Jede kämpfende Nation musste Devisenkontrollen einführen, um zu verhindern, dass dringend benötigte Gelder in neutrale Länder flossen, und die neutralen Länder reagierten entsprechend, während Sanktionen und Gegensanktionen zwischen den konkurrierenden Allianzen das Vertrauen zerstörten, das den globalen Handel erst möglich gemacht hatte. Als der Krieg schließlich 1918 zu Ende ging, war die Weltwirtschaft des viktorianischen Zeitalters irreparabel zerrüttet. Die Versuche, in den 1920er Jahren einen gewissen Anschein davon wiederherzustellen, trugen dazu bei, die Voraussetzungen für die globale Wirtschaftskatastrophe von 1929 zu schaffen. Nach der Weltwirtschaftskrise war der Freihandel in den Köpfen der meisten Menschen völlig diskreditiert, und es dauerte fünfzig Jahre, bis die Vereinigten Staaten sich daran machten, die imperiale Strategie Großbritanniens zu ihrem eigenen Vorteil zu kopieren, was zu unserer heutigen Situation führte.
Im Jahr 1913 war Großbritannien das reichste und mächtigste Land der Welt. 1918 war Großbritannien ein halb zerschlagener wirtschaftlicher Sanierungsfall, so kurz vor dem Bankrott, dass es nie in der Lage war, seine Schulden aus dem Ersten Weltkrieg an die Vereinigten Staaten zu begleichen, und so knapp bei Kasse, dass die britische Regierung, als Irland sich gegen die britische Herrschaft auflehnte, einknickte und seine älteste und am gründlichsten ausgeplünderte Kolonie losließ. Es dauerte nur vier Jahrzehnte nach 1914, bis der Rest des britischen Imperiums zusammenbrach und Großbritannien von seinem früheren Status als globale Hypermacht auf die schmachvolle Rolle eines US-Klientenstaates zurückfiel, der hauptsächlich durch Geldwäscheoperationen in der Londoner City am Leben gehalten wird. Das ist es, was mit Nationen passiert, die zu sehr vom wirtschaftlichen Globalismus abhängig werden.
Könnte etwas Ähnliches mit den Vereinigten Staaten geschehen? Natürlich könnte es das. Glaubwürdigen Schätzungen zufolge ziehen die Vereinigten Staaten derzeit jährlich etwa 1 Billion US-Dollar an unverdientem Reichtum aus der Rolle des Dollars als Weltreservewährung und als Medium für große Handelsgeschäfte. Das gibt der US-Regierung die Möglichkeit, Billionen von Dollar, die sie nicht hat, für internationale Abenteurer und inländische Prestigeprojekte zur Wählerbeeinflussung (pork-barrel projects) auszugeben. Wenn das wegfällt – wenn die US-Regierung keine Schulden mehr machen kann und ihre Ausgaben aus ihrem eigenen Einkommen bezahlen muss – wird der größte Teil der Fassade des amerikanischen Wohlstands zusammenbrechen, den kolossalen Wohlfahrtsprogrammen für Unternehmen, die das Großkapital in diesem Land unterstützen, wird das Geld ausgehen, und die globale Vorherrschaft der USA wird der Vergangenheit angehören.
Möglicherweise erleben wir gerade jetzt die ersten Runden dieses Übergangs. Wenn Sie hier in den Vereinigten Staaten einen Lebensmittelladen besuchen, sind die Preissteigerungen bei vielen Produkten von Woche zu Woche weitaus höher als die offizielle (und stark geschönte) Inflationsrate. Wenn Sie dort sind, achten Sie darauf, wie viele Regale leer sind oder wie viele Produkte darauf verteilt wurden, um den Mangel zu kaschieren – so wie es in den Ostblockländern geschah, bevor sie zusammenbrachen. Die vom Dollar abhängige (und dominierte) Weltwirtschaft verliert gerade ihre Räder und die Folgen werden eine drastische Umverteilung des Reichtums zwischen den Nationen und zwischen den Klassen innerhalb der Nationen sein. Der wohlhabende Engländer, den sich Keynes 1913 an seinem Frühstückstisch vorstellte, war 1933 viel weniger wohlhabend, und 1953 war er noch viel weniger wohlhabend.
All dies ist es wert, beobachtet zu werden, vor allem, aber nicht nur für diejenigen unter uns, die in den Vereinigten Staaten leben. Wie ich bereits erwähnt habe, wird das Thema allmählich auch in den Randgruppen diskutiert, wo man heutzutage über unerwünschte Realitäten spricht. Ich möchte jedoch einen Schritt weiter zurückgehen und das Geschehen im kalten Licht einer breiteren historischen Entwicklung betrachten.
Ich habe das britische Weltreich bereits einige Absätze zuvor erwähnt. Im Jahr 1500 wäre die Idee eines britischen Weltreichs absurd gewesen, wenn überhaupt jemand an so etwas gedacht hätte. Im Jahr 1500 stellten sich die Menschen, die Europa überhaupt Beachtung schenkten, Europa als einen trostlosen, feuchten, gebirgigen Subkontinent vor, der an das westliche Ende Asiens geklebt war und von einer Reihe kleiner Nationen bewohnt wurde, die sich vor allem durch ihre seltsamen religiösen Überzeugungen und ihre Neigung zu mörderischen internen Kriegen („internecine warfare“) auszeichneten. Wie es seit der Antike der Fall war, befand sich Europa am Rande der zivilisierten Welt: einem Gürtel großer imperialer Nationen, der sich über das südliche Ende Asiens, den Nahen Osten und Westafrika erstreckte.
Westafrika hatte schon vor Europa Städte und war ein wichtiges Zentrum städtischer, gebildeter Zivilisationen, als der größte Teil Europas noch von ungebildeten germanischen Stämmen bewohnt war, die glaubten, dass die römischen Ruinen von Riesen erbaut worden sein müssten. Um 1500 wurde Westafrika vom Songhai-Reich beherrscht, einem ausgedehnten politischen Gebilde, das den größten Teil der westlichen Ausbuchtung Afrikas südlich der Sahara beherrschte und sich von den großen Städten Timbuktu und Gao bis zum Atlantik erstreckte. Bis 1591, als das Songhai-Reich nach einer katastrophalen Niederlage in einem Krieg mit Marokko auseinanderbrach, war es größer, reicher und militärisch mächtiger als jede andere Nation in Europa. Die Tatsache, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, wahrscheinlich noch nie davon gehört haben, sagt einiges über die im Wesentlichen engstirnige Natur der modernen westlichen Bildung aus).
Das Chinesische Reich, das Mogulreich in Indien, das Persische Reich, das Osmanische Reich und das Songhai-Reich: Diese und ein paar Dutzend kleinere Nationen, die an ihren Flanken verstreut lagen, von Japan im fernen Osten bis zum Wolof-Königreich im fernen Westen, bildeten die zivilisierte Welt. Europa befand sich an der Peripherie, und die schlauen Leute – wenn sie Wetten abgeschlossen hätten – wären wahrscheinlich davon ausgegangen, dass die zänkischen kleinen Staaten bald vom aufstrebenden Osmanischen Reich verschluckt werden würden. Und fast wäre es auch so gekommen: Hätten die europäischen Streitkräfte die Seeschlacht von Lepanto 1571 nicht gewonnen und den beiden osmanischen Belagerungen Wiens 1526 und 1683 nicht standgehalten, wäre wahrscheinlich ein viel größerer Teil Europas, wenn nicht sogar ganz Europa, von den Türken erobert worden.
Es gehört jedoch zu den Gemeinplätzen der Geschichte, dass die Völker an der Peripherie Neuerungen einführen, während die Völker im Zentrum dieselben Bewegungen wiederholen. Genau das hat Europa getan. Die Europäer haben weder das Schießpulver noch die Kanonen noch die Hochseesegelschiffe erfunden – die Chinesen hatten all diese Technologien Jahrhunderte, bevor sie nach Europa gelangten -, aber als diese Technologien erst einmal da waren, trieben die kriegerischen europäischen Länder sie weiter voran, als irgendjemand sonst es je getan hatte. Um 1500 liefen aus allen Häfen der europäischen Atlantikküste große Schiffe aus, die in der Lage waren, Ozeane zu überqueren, und die mit Kanonen bewaffnet waren, die allem anderen auf See überlegen waren.
Zunächst stand der Handel auf der Tagesordnung – der Handel mit Indien und China, um Zugang zu asiatischen Luxusprodukten zu erhalten, ohne die exorbitanten Aufschläge der türkischen und arabischen Zwischenhändler zahlen zu müssen -, doch die Entdeckung Amerikas änderte alles, vor allem, nachdem die Krankheiten der Alten Welt 95 % der einheimischen Bevölkerung der Neuen Welt ausgerottet und das Feld für die europäische Kolonisierung und Besiedlung weit offen gelassen hatten. Es dauerte weniger als zwei Jahrhunderte, bis Europa dem Planeten eine neue Wirtschaftsstruktur aufzwang: Die europäischen Seestreitkräfte und Handelsflotten monopolisierten den internationalen Handel, und die europäischen Kolonien in der Neuen Welt, die hauptsächlich von aus Afrika importierten Sklaven bewirtschaftet wurden und die phantastisch lukrative Tabak- und Zuckerernten erzielten, die weltweit verkauft wurden. Den Handelsflotten folgten europäische Armeen, die in der spektakulärsten Eroberungsorgie der Geschichte den größten Teil des Planeten eroberten.
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Ära des Abschlachtens und Plünderns sind für unseren heutigen Zweck von Bedeutung. Im Jahr 1600 war Indien die reichste Nation der Welt. Im Jahr 1900 war es eine der Ärmsten. Das war kein Zufall. Es geschah, weil die britische Herrschaft Indien bis auf die Grundmauern ausplünderte und den Erlös nach Hause schickte. Der erstaunliche Reichtum, der Großbritanniens weltweite Militärpräsenz finanzierte und London mit so viel monumentaler Architektur überzog, stammt aus der rücksichtslosen Ausbeutung Indiens und Dutzender anderer Länder. Das Gleiche gilt für die meisten anderen europäischen Länder und Hauptstädte. Wenn heutzutage über die unterentwickelten Länder der Welt gesprochen wird, wird meist vermieden, zuzugeben, dass die Armut in der Dritten Welt durch die europäische Enteignung jedes Stücks beweglichen Reichtums, das nicht niet- und nagelfest war, verursacht wurde.
Jetzt geht es um die Nachwirkungen. 1947 zwang Indien ein bankrottes und angeschlagenes Großbritannien, ihm die Unabhängigkeit zu gewähren. 1949 stürzte China eine schwache nationalistische Regierung, die von westlichen Mächten abhängig war. 1979 wurde der Iran – so wird Persien heute genannt – einen amerikanischen Marionetten-Schah los. Der Türkei ist es gelungen, nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches durch Frankreich und Großbritannien im Jahr 1918 eine prekäre Unabhängigkeit zu bewahren, und sie ist auf dem besten Weg, ihre historische Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum wiederzuerlangen. Westafrika ist immer noch ein hoffnungsloser Fall, aber das liegt vor allem daran, dass die französischen und amerikanischen Truppen dafür sorgen, dass es so bleibt. (Das Letzte, was man in der NATO wollte, war, dass nach der Ölkrise der 1970er Jahre eine weitere ölreiche Region expansive Vorstellungen von ihrer Fähigkeit zu internationalem Einfluss bekam, so wie es die Staaten des Persischen Golfs taten).
Das heißt, die zivilisierte Welt erholt sich von den Auswirkungen der vorübergehenden Herrschaft Europas.
Die Folgen lassen sich in wirtschaftlicher Hinsicht leicht nachvollziehen. Wie bereits erwähnt, ist China selbst unter Berücksichtigung der Verzerrungen durch die stark aufgeblähten Finanzsektoren in Europa und den Vereinigten Staaten heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Indien ist die fünftgrößte und die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt. Der Iran leidet immer noch unter harten Sanktionen, hat sich aber zu einer regionalen Wirtschaftsmacht mit einem boomenden Industriesektor entwickelt. Sobald die Sanktionen, die ihn binden, fallen – und sie fallen -, ist zu erwarten, dass er zu einer wichtigen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kraft wird. Der Rest des alten Gürtels der zivilisierten Nationen, westlich der iranischen Grenze bis zur Atlantikküste Westafrikas, hinkt noch ein wenig hinterher, aber geben Sie ihm noch hundert Jahre, und die natürlichen wirtschaftlichen Vorteile des alten zivilisierten Gürtels werden sich wahrscheinlich durchsetzen.
Und Europa? Verknöchert, umständlich (fussy), anspruchsvoll (entiteled), sich an die schäbige Würde eines Zeitalters des Imperiums klammernd, das im Rückspiegel der Geschichte verblasst, und niedergedrückt von einer demografischen Schrumpfung, die sich seit einem Jahrhundert beschleunigt, ist Europa die Vergangenheit, nicht die Zukunft. William Butler Yeats sah es ein Jahrhundert im Voraus: „Welche Zwietracht wird Europa in jene künstliche Einheit treiben – nur trockene oder trocknende Stöcke können zu einem Bündel geschnürt werden -, das die Dekadenz jeder Zivilisation ist?“ Die Europäische Union hat seine Prophezeiung buchstabengetreu erfüllt und ist dabei, Yeats‘ großen historischen Zyklus zu vollenden, indem sie in eine endgültige Zusammenhanglosigkeit versinkt, aus der zu gegebener Zeit etwas völlig Neues – und für die konventionelle Weisheit des heutigen Europas völlig Inakzeptables – hervorgehen wird.
Tolkien, der wohl größte Meister der mythischen Erzählung des 20. Jahrhunderts, hat ein schönes Gedicht mit dem Titel „The Hoard“ (Der Hort) verfasst, das sich auf uralte Erkenntnisse über den Zyklus des Aufstiegs und Niedergangs von Imperien und Zivilisationen stützt. Er folgt einem prächtigen Schatz von einem Besitzer zum anderen, vom Zwerg zum Drachen zum Menschenkönig, und trägt den Fluch des Verfalls und des Untergangs mit sich. Der Schatz ist, wie Tolkien sehr wohl wusste, die Havarena, der Schatz der Souveränität aus der archaischen indoeuropäischen Überlieferung; es ist das Gold des Rheins – in der ursprünglichen Abfolge der Ereignisse vielleicht der Hort eines reichen Römers -, das dazu beitrug, mörderische Fehden im nachrömischen Rheinland anzutreiben, das den größten aller Zyklen der deutschen und nordischen Sage inspirierte und das zentrale Thema für das letzte wirklich große Werk der westlichen Oper, Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen, lieferte. Tolkiens Worte sind ein schönes Epitaph für Europa in seiner Dekadenz:
Die Schwerter seiner Vasallen waren stumpf vor Rost,
sein Ruhm gefallen, seine Herrschaft ungerecht,
seine Hallen hohl und seine Gemächer kalt,
aber König war er aus Elfengold.
Das ist der Fluch der Macht. Jede Nation, wie jede Generation, geht von einer Jugend voller Ideale und großer Hoffnungen in ein Alter über, das durch die exakten mathematischen Konsequenzen ihres Handelns bestimmt wird. Der alte Gürtel der Hochkulturen hatte seine eigenen Lasten und seine eigene Dekadenz zu tragen, und er hat dafür bezahlt. Nun, da er wieder zu Kräften gekommen ist, steigt er, während die Rechnung für das europäische Zeitalter der Herrschaft geduldig von Vater Zeit beglichen wird, und zwar vollständig. Es sollte nicht überraschen, dass die Nationen, die die Welt in der vorindustriellen Ära beherrschten, in der Endphase des Industriezeitalters erneut die Welt beherrschen werden.
Dies ist schließlich der breitere Kontext, in dem der russisch-ukrainische Krieg und die damit einhergehenden wirtschaftlichen Erschütterungen zu verstehen sind. Die große geopolitische Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautete, ob sich Russland mit seinen immensen Ressourcen an fossilen Brennstoffen, Mineralien und landwirtschaftlichen Rohstoffen mit Europa oder dem aufstrebenden Asien verbünden würde. Es wäre für Europa und die Vereinigten Staaten ein Leichtes gewesen, Russland in eine gesamteuropäische Struktur von Bündnissen und Wirtschaftsbeziehungen einzubinden. Alles, was dazu nötig gewesen wäre, ist eine vernünftige Berücksichtigung der russischen Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit und die Bereitschaft, langfristige Ziele über kurzfristige Gewinnsucht zu stellen. Die europäischen und amerikanischen Politiker haben sich als zu unfähig erwiesen, diese einfachen Schritte zu vollziehen, so dass sich die Frage nun erledigt hat: Russland wendet sich nach Osten und gibt seine Rohstoffbasis und seine politische Unterstützung an China, Indien und den Iran ab. Das hätte nicht passieren müssen, aber jetzt ist es zu spät, das zu ändern.
Und die Vereinigten Staaten? Wir haben das getan, was Randmächte in Zeiten des Niedergangs oft tun, wenn das imperiale Zentrum zu schrumpfen beginnt. Wir schnappten uns 1945 die Zügel des Imperiums, als Großbritannien zu schwach war, um sie länger zu halten, und versuchten, dasselbe Spielchen auch für uns zu nutzen. Alles in allem hat es nicht sehr gut funktioniert. Jetzt sind wir in dieselbe Falle getappt wie Großbritannien 1914: tödlich überengagiert in einem unbezahlbaren globalen Imperium, hoffnungslos abhängig von einer Weltwirtschaft, die aus allen Nähten platzt, und unfähig zu erkennen, dass sich die Welt verändert hat. Die nächsten Jahrzehnte werden ein harter Weg für uns sein.
Allerdings geht das europäische Zeitalter zu Ende, nicht das amerikanische. Das amerikanische Zeitalter hat noch nicht begonnen. Die Vereinigten Staaten sind heutzutage ein Dritte-Welt-Land, das durch ein Kapitel historischer Unfälle in eine vorübergehende Position als globaler Hegemon katapultiert wurde. Ihre europäisch geprägten Eliten sind, wie in der Dritten Welt üblich, eine kleine Minderheit, die eine schwache, vorübergehende Herrschaft über unruhige Massen ausübt, die ihre Ideale und Interessen nicht teilen und ihre potenzielle Macht zu spüren beginnen. Amerika ist noch jung und schwanger mit der Zukunft; in Jahrhunderten, lange nachdem das europäische Furnier abgeworfen wurde, wird es etwas völlig Neues hervorbringen, das für die konventionelle Weisheit des heutigen Europas unannehmbar, ja völlig unverständlich sein wird.
Aber natürlich wird es diese konventionelle Weisheit bis dahin nicht mehr geben. Wenn die Geschichte ihrem gewohnten Lauf folgt, wird zu dem Zeitpunkt, an dem die künftige Hochkultur des östlichen Nordamerikas zu entstehen beginnt, das Zeitalter der europäischen Weltherrschaft eine ferne Erinnerung sein, und Europa selbst wird viele Jahrhunderte in seinem vorimperialen Zustand verbracht haben: eine zersplitterte, verarmte, kriegerische Region am fernen Rand der zivilisierten Welt. Seine Völker und Kulturen haben mit denen, die heute dort leben, nicht mehr viel gemeinsam. Fast alle Völker des römischen Europas starben in der nachrömischen Ära aus, überschwemmt von Massenmigrationen aus anderen Ländern. Zu Beginn des gemeinsamen Zeitalters lebten die Vorfahren der heutigen Spanier in der Ukraine und die Vorfahren der heutigen Ungarn lebten näher an China als an Ungarn. Genauso könnten in einem Jahrtausend viele der in Europa lebenden Menschen ihre Vorfahren in den heutigen Nahen Osten oder nach Afrika südlich der Sahara zurückverfolgen, und die historischen Nationen Europas werden in Vergessenheit geraten, ausgelöscht von den Fluten der Migration und Eroberung, die neue Grenzen und neue Gemeinwesen schaffen.
Die Geschichte nimmt keine Rücksicht auf Menschen, und sie geht besonders hart mit denen um, die meinen, dass ihr Anspruchsdenken im großen Ganzen zählt. Das sollte man im Hinterkopf behalten, denn wir bewegen uns auf eine Ära heftiger Veränderungen zu, deren Folgen die meisten Menschen noch gar nicht abschätzen können. In den kommenden Monaten werden wir mehr darüber und über die Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten, sprechen.
Ende der Übersetzung
Ist das ein Scherzartikel eines kanadischen Hippies?
Habe sehr gelacht bei dem Teil, wo er mir das Europa von 1500 als Dritte Welt verkaufen wollte.
Er vergas zu erwähnen, dass der größte Innenraum der Welt, eine türkische Moschee der heiligen Weisheit gewidmet, um 1500 beinahe 1000 Jahre alt war. In der Zeit endete in vielen Teilen Europas die Gotik mit ihren primitiven Bauwerken wie Notre Dame im Dorf Paris. Kunstbegeisterte Amateure wie Rafael, DaVinci und Michelangelo liessen sich von afrikanischer Hochkultur begeistern und schufen ambitioniertes Kunsthandwerk…
Aber ignorieren wir das. Was ist mit den Vorhersagen?
Amerikas große Zeit kommt erst noch?
Wenn die Europäer assimiliert sind??
Muhahahahahaha.
Tschuldige, das war jetzt wenig korrekt von mir…
Aber da war etwas mit Peak-Oil und so.
Natürlich erwischt es die fette Welt zuerst, denn sie verbraucht am meisten. Trotzdem wird die „zivilisierte Welt“ den selben Weg gehen.
Mal ganz nebenbei: die ältesten Gene in Europa finden sich in Spanien. Das sind die Katalanen und die Basken.
Klar werden wir Federn lassen – das bringt das Ende des Ölzeitalters so mit sich. Aber dieser Artikel ist doch moralinsaures Wunschdenken eines ausgemachten Spinners.
Vielen Dank für diese nüchternen Worte!
Ganz abgesehen davon, dass die moderne westl. Geschichte nur etwa 6 – 800 Jahre zurückreicht (der Rest ist falsche zeitl. Zuschreibung und Erfindung) ist z.B. die Behauptung, der europ. Wohlstand beruhe allein auf kolonialer Ausplünderung, ziemlich lächerlich. Auch die Geschichten mit dem chines. Schießpulver, den Segelschiffen u.ä. sind ziemlicher Schwachsinn.
Richtig ist nur, dass die westl-europ. Vorherrschaft am Verschwinden ist; doch wird es schon in ein bis zwei Jahrzehnten keine (neuen und alten) Großreiche mehr geben, u.a., weil der Umbruch (der Zyklensprung) viel größer sein wird, als der Autor es sich mit seinem limitierten Weltbild vorstellt.
Ansonsten aber großes Lob, dass solche übersetzten Artikel hier auf freizahn.de verfügbar sind.