Der Abgeordnete, der vom Netz ging

Lesedauer 11 Minuten
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Roscoe Bartlett verbrachte 20 Jahre als Abgeordneter im amerikanischen Kongress. Nun lebt er in einer abgelegenen Hütte in den Wäldern und bereitet sich auf den Untergang der Welt wie wir sie kennen vor.

Von Jason Koebler. 3. Januar 2014

Übersetzung von Christoph Becker. Das amerikanische Original mit vielen Bildern(!) findet sich hier.


Als Roscoe Bartlett Abgeordneter im Repräsentantenhaus war, klinkte er sich in ein besonders apokalyptisches Thema ein, eines über welches sonst fast niemand zu sprechen schien: Amerikas gefährlich verwundbares Stromnetz. Rede für Rede zu später Stunde tyrannisierte Bartlett das nahezu leere Parlament: Wenn die Vereinigten Staaten nicht bald etwas tun, um das Stromnetz zu schützen, dann wird ein Terrorist oder eine Naturkatastrophe dem Leben, wie wir es kennen, ein Ende bereiten.

Bartlett liebte es, Weltuntergangsvisionen zu beschwören: Denken Sie an den Stromausfall in New York City [Jason Koebler, der Interviewpartner,  wohnt im New Yorker Stadtteil Brooklyn] nach dem Hurrikan Sandy – aber der Stromausfall würde ein sehr viel größeres Gebiet betreffen und Monate andauern. Er hat einmal von einem Gespräch erzählt, das er mit nicht genannten russischen Regierungsvertretern darüber geführt habe, wie die Russen die Vereinigten Staaten ausschalten könnten: Sie würden, zitiert er sie, eine Atomwaffe hoch über den USA zünden und das Stromnetz und die Kommunikationsmittel für 6 Monate oder so abschalten [ohne dass die USA einen Vergeltungsschlag führen könnten].

Bartlett gewann mit seinen gruseligen Reden über elektromagnetische Impulse und Sonnenstürme nie viele Anhänger. Eher kurzfristige Sorgen schienen seine Kollegen zu beschäftigen, oder Bartletts Besessenheiten klangen mehr wie Quacksalberei als wie echte Wissenschaft, obwohl sie von einem Marineingenieur kamen, der im Raumfahrtrennen mitgewirkt hatte. Was immer der Grund war, die Handlungsunfähigkeit des Repräsentantenhauses ist nicht länger Bartletts Problem. Der achtzigjährige Republikaner aus dem westlichen Maryland, der mehr als einmal als der sonderbarste Kongressabgeordnete bezeichnet wurde, fand sich aufgrund einer Wahlkreisverschiebung vor einem Jahr ohne Mandat und entschied sich unverzüglich den Warnungen entsprechend, die andere nicht beachten wollten, aktiv zu werden. Er zog sich auf ein abgelegenes Grundstück in den Bergen von West Virginia zurück, wo er ohne Telefon, ohne Verbindung zum Stromnetz und ohne Anschluss an das öffentliche Rohrleitungssystem [für Wasser, Abwasser und ggf. Gas] lebt. Da es ihm nicht gelungen ist, die Stromversorgung für den Rest des Landes abzusichern, hat Bartlett sich selbst komplett vom Stromnetz getrennt. Er hat schließlich das getan, wozu er andere vergeblich aufgefordert hat: „unabhängig vom System zu werden“, wie er es in einer Dokumentation im Jahr 2009  formuliert hat.

Ich besuchte Bartlett im letzten Herbst [2013], indem ich einer Reihe irrgartenartiger Anweisungen folgte: Folge einer Serie verschiedener Gabelungen der Straße, achte auf die eine befestigte Zufahrt die von einer engen felsigen unbefestigten Straße abzweigt. Dabei kletterte ich auf fast 1200 Meter, eine der höchsten Erhebungen der USA östlich der Rocky Mountains. Auf der halben Strecke der vierstündigen Fahrt von Washington, hatte mein Mobiltelefon keinen Empfang mehr und es bekam ihn auch nicht mehr. Das nächste Einkaufszentrum ist mehr als eine Autostunde entfernt.

Als ich ankam, begrüßte mich Bartlett in einem verwaschenen, blauen Overall und einem unordentlichen weißen Bart und fragte, ob irgendetwas passiert sei, seit er das letzte Mal vor ungefähr einer Woche in Maryland war. Ich erzählte ihm, dass die NSA gerade dabei ertappt worden sei, dass sie Datenverbindungen zwischen von Google und Yahoo betriebenen Datenzentren angezapft hatte. Er schaute verblüfft.

Die Begrenzung der Rolle der Regierung hat in seinen 20 Jahren als Abgeordneter einen großen Teil seines Lebens beansprucht. Das hat ihm wenig Zeit gelassen, einfach an seinem See zu sitzen, die Sonne untergehen und die Fledermäuse herauskommen zu sehen. Aber heutzutage kreisen seine Sorgen darum, wann der nächste Frost kommen wird und wie die Mäuse aus seinen Speisekammern herausgehalten werden können. Er ist mehr daran interessiert, auf die verschiedenen Arten von Bäumen auf seinem Grundstück hinzuweisen oder mit seiner neuen, kompostierenden Toilette anzugeben als die Gesundheitsreform Präsident Obamas zu diskutieren (“einfach schrecklich”) oder den Regierungsstillstand [unbezahlter Zwangsurlaub wegen drohender Zahlungsunfähigkeit des Staates] (” viele Leute haben verstanden, dass wir ohne Regierung gut zurecht kommen könnten”).

“Wissen Sie”, sagte er nach einer Pause, “die Nachrichten sind jetzt wie eine Seifenoper. Wenn du sie eine Woche nicht gehört hast hast du nicht viel verpasst.”

***

Die Leute fragen mich ‘warum?’ “ sagt Bartlett während er mir alles zeigt. “Und ich frage die Leute, warum sie auf den Mount Everest steigen. Es ist eine Herausforderung sich vorzustellen, wie das Leben sein würde, wenn es kein Stromnetz und keine Lebensmittelgeschäfte mehr gäbe. Das ist so wie das Leben für unsere Vorväter war.”

Mit 87 braucht Bartlett kaum einen Grund zur Rechtfertigung dafür, dass er sich weit vom Gedränge und Stress des Parlaments entfernt hat. Es gibt keine Abstimmungen mehr, wegen denen er zurückgehen müsste, nach fast zwei Jahrzehnten als der mit Abstand konservativste Kongressabgeordnete aus dem linksliberalen Bundesstaat Maryland gibt es für ihn keinen Wahlkampf, den er führen muss. Aber er hat sich nicht ganz von der Gesellschaft zurückgezogen: Alle paar Wochen rasiert er sich, zieht sich wieder seinen Anzug an und reist nach Washington, wo er als führender Berater von Lineage Technologies, einer Datensicherheitsgruppe für Versorgungsketten beschäftigt ist. (” Ich habe es nicht nötig zu arbeiten, aber ich möchte Verantwortung tragen,” sagt er. “Es gibt da Probleme, die gelöst werden müssen und ich verstehe einiges von diesen Dingen.”)

Sein Leben hier in den Bergen entspricht nicht der normalen Vorstellung vom Ruhestand. Er steht jeden Tag beim Morgengrauen auf, außer Samstags (er ist 7 Tage Adventist) und verbringt 10-12 Stunden damit, Baumstämme zu schneiden, sich um die Gärten zu kümmern und Wände zu streichen. Als Bartlett die Leiter zu einem Dachgeschoss hinaufklettert frage ich ihn, ob er jemals Gesundheitsprobleme hatte. Nein, sagt er außer etwas Arthritis und Sodbrennen. Er mag auf die 90 zu gehen, aber seine verwitterte Haut, seine Hörhilfe und sein Wanderstab sind die einzigen Gründe wegen denen man vermuten kann, dass er alt geworden ist. Als seine Frau vorschlägt, den “Alligator”, ein golfwagenartiges Fahrzeug von John Deere zu benutzen, um auf ihrem Grundstück herumzufahren, lehnte er das ab und zieht es vor, zu Fuß zu gehen.

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