Unbekannte und der Sinn der Meinungsfreiheit
Der auf den ersten Blick vielleicht unlogisch erscheinende Begriff der unbekannten Unbekannten ( Unkown Unkowns) ist 2002 durch einen Ausspruch des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld bei einer Pressekonferenz zum Irak-Krieg bekannt geworden (dt. Wikipedia: There are known knowns). Das Konzept ist wesentlich älter und bei genauem Hinsehen noch differenzierter und für den Umgang mit komplexen Systemen und Situationen nützlich. Rumsfeld selbst hat den Begriff auch nicht erfunden, sondern hatte erstmals von dem NASA-Verwalter William Robert Graham davon gehört. Ich selbst habe erst vor ein oder zwei Jahren auf einer sicherheitspolitischen Fortbildung des Reservistenverbandes und in der letzten Zeit durch auf Youtube verfügbare Vorträge von Prof. Thomas Homer-Dixon und dann auch bei der Lektüre seines Buches The Ingenuity Gap: How Can We Solve the Problems of the Future? (dt. Die Ingeniösitätslücke: Wie können wir die Probleme der Zukunft lösen?), in dem den unbekannten Unbekannten ein ganzes Kapitel gewidmet ist, davon erfahren. D.h. das Konzept der unbekannten Unbekannten habe ich schon lange durch verschiedenene Erfahrungen und Literatur gekannt, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, dafür den Begriff unbekannte Unbekannte zu bilden. Beim Programmieren von Computern und beim Umgang mit technischen Systemen überhaupt und natürlich auch beim Ausüben der Zahnheilkunde, wird man selbstverständlich immer wieder mit unbekannten Unbekannten konfrontiert. Das auf Nassim Nicholas Talebs Buch Der Schwarze Schwan zurückgehende Konzept des Schwarzen Schwans ist eine Umschreibung des Konzepts der unbekannten Unbekannten und Sun Tzu, der schon über 2200 Jahre alte Klassiker der Kriegskunst handelt, wenn man genauer hinsieht selbstverständlich auch davon, wie man für den Gegner unbekannte Unbekannte kreiert und nutzt und wie man sich selbst gegen sie wappnet.
Bei der Recherche zum Thema unbekannte Unbekannte ist mir auch das Johari-Fenster begegnet. Es handelt sich um ein grafisches Schema, um bewusste und unbewusster Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale zwischen einem Selbst und anderen oder einer Gruppe darzustellen. Es geht auf die beiden amerikanischen Psychologen Joseph Luft (1916–2014) und Harrington Ingham (1916–1995) zurück. Eine Suche per Google nach “Johari Fenster” ergibt eine Reihe interessanter Links.
Mir geht es hier aber ganz allgemein um Unbekanntes beim Umgang mit komplexen Systemen. Man kann drei Formen von Unbekannten unterscheiden:
Bekannte Unbekannte
Das sind Messgrößen und Eigenschaften, von deren Existenz man weiß. Man kennt die aktuellen Werte nicht, aber man kennt historische Werte und kann damit den aktuellen Wert abschätzen. Zum Beispiel kann man die Durchschnittstemperatur und die Niederschlagsmenge des nächsten Monats und das Datum des ersten Frostes im kommenden Herbst nicht kennen, aber man weiß, dass es diese Daten geben wird und man kann sie mit Hilfe historischer Erfahrungen und Aufzeichnungen abschätzen. Wenn man Systemzusammenhänge und langfristige Trends kennt, kann man damit versuchen, die aus den historischen Aufzeichnungen abgeleitete Abschätzung zu optimieren.
Unbekannte Unbekannte
Hier gibt es zwei Möglichkeiten.
Unbekannte, deren Existenz man erfolgreich verdrängt. Die Existenz einer unbekannten Unbekannten dieser Art ist dem Unterbewusstsein bekannt. Unbekannt in diesem Sinn können Konstanten oder sich mehr oder wenig zufällig und willkürlich verändernde Variablen sein. In beiden Fällen können “Bauchgefühl”, Intuition, oder auch Techniken wie Pendeln, Hinweise auf diese Unbekannten geben. Das erinnert mich aber auch an eine Fortbildungsserie zum Thema zahnärztliche Hypnose. Das Unbewusste kann Negationen nicht verstehen. D.h., die besorgte Mutter die ihrem Kind beim Zahnarzt dauernd sagt “das tut NICHT weh” oder “das ist NICHT schlimm” sagt dem Unbewussten ihres Kindes “das tut weh”, bzw. “das IST schlimm” und steigert damit natürlich dessen Angst. Anderseits habe ich bei der Gelegenheit auch gelernt, dass Pendeln als Werkzeug zur Befragung des eigenen Unterbewussten tatsächlich funktionieren kann.
Unbekannte, die tatsächlich völlig unbekannt sind. Ein denkbares Beispiel sind technische, physikalische oder natürliche Effekte, die jemand mangels Erfahrung oder Bildung (hier als Erweiterung der eigenen praktischen Erfahrung) nicht kennt.
Bei komplexen Systemen können alle Formen von Unbekannten vorkommen und es können mehrere bekannte und unbekannte Unbekannte gleichzeitig wirken.
Sinnvollste Gegenmaßnahmen
Die Resilienz verbessern. Resilienz ist dabei aber ganz sicher nicht nur in psychologischer Hinsicht gemeint, sondern auch aus technischer, sicherheitspolitischer, gesellschaftlicher und landwirtschaftlich-gartenbaulicher und ökologischer Sicht. Auf der Sicherheitspolitischen Fortbildung des Reservistenverbandes Rheinland-Pfalz im Frühjahr 2017, an der Führungsakademie der Bundeswehr in Koblenz, hat der dort über die Arbeit und Aufgaben der Führungsakademie berichtende Offizier drauf aufmerksam gemacht, dass das Thema Resilienz nun im neuen, 2016 erschienenen Weißbuch der Bundeswehr verankert ist und dass man dabei sei, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. In der Tat liefert die Suche nach dem Wort “Resilienz” in dem neuen Weißbuch 27 Treffer. Dazu gehören auch Wortverbindungen wie Resilenzaufbau, Resilienzbildung und Gesamtresilienz.
Mir fallen zum Thema Resilienzverbesserung insbesondere ein:
- Die Bundeswehrregel, die ich gleich zu Anfang im Grundwehrdienst gehört habe: Aufklären, Sichern, Verbindung halten.
- Die größten zukünftigen Gefahren herausfinden, mit denen man vernünftiger Weise rechnen sollte.
- Wenn möglich, sich auf die größtmöglichen zukünftigen Gefahren mit den geringst möglichen Mitteln aber zugleich doch ausreichend vorbereiten, und dabei darauf achten, dass man möglichst alle geringeren Gefahren mit abgedeckt. Bei den Punkten 2 und 3 denke ich z.B. an die Absicherung der großen Transformatoren der Stromversorgung gegen durch die Zündung von Atomwaffen in großer Höhe ausgelöste EMP-Ereignisse und auch an eine Reform der Landwirtschaft, die unter anderem die lokale Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung, die Probleme der Bodenerosion und den Hochwasserschutz, das Klimaproblem und den Artenschutz gleichzeitig adressiert. Zum Thema EMP siehe EMP-Bedrohung – Anhörung im US-Kongress und zum Thema Landwirtschaftsreform siehe Gedanken zum Film Bauer Unser
- Demokratie und Meinungsfreiheit in Wort und Schrift, sowie Freiheit von Forschung und Lehre.
Aufgabe und Sinn von Demokratie und Meinungsfreiheit, und auch der Freiheit von Forschung und Lehre besteht NICHT darin, nur so zu tun als hätte und schätze man sie, während man sie im Grunde ablehnt und durch Tabus, Maulkorbgesetze und “Politische Korrektheit” unterdrückt und faktisch abzuschaffen versucht, weil man den gerade Herrschenden und ihren Applaudierern das gute Gefühl vermitteln möchte, dass sie immer Recht haben, dass niemand ihr Weltbild und ihre Träume stört und dass ihre Zukunftspläne grundsätzlich klug und realisierbar sind, auch wenn sie das in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr sind und vielleicht auch niemals waren.
Aufgabe und Sinn von Demokratie und Meinungsfreiheit sowie der Freiheit von Forschung und Lehre, ist vielmehr die Verbesserung der Zukunfts- und Überlebenschancen einer Gesellschaft, indem man die Ressourcen und Verschiedenheiten in der Gesellschaft nutzt, um möglichst viele unbekannte Unbekannte zu bekannten Unbekannten zu reduzieren und um die Ingeniösitätslücken, mit denen sich jede Gesellschaft zumindest in Zeiten knapper werdender Ressourcen und schneller Veränderungen konfrontiert sieht, zu minimieren.
Demokratie, Meinungsfreiheit, die Freiheit von Forschung und Lehre sind im Grund die Antwort auf die Erfahrung, dass Menschen und auch Mehrheiten sich tragisch irren können und dass manchmal einzelne oder Minderheiten Teile der Realität, Gefahren und auch Problemlösungen vielleicht besser erkennen als andere – wobei man oft erst hinterher weiß, wer wie sehr recht hatte oder sich geirrt hat.
Faktisch sind Demokratie, Meinungsfreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre, also weder ein Luxus noch ein Wert an sich, sondern die vielleicht wichtigste Maßnahme und Voraussetzung zur Verbesserung und Sicherung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz.
Kelberg, den 15. Mai 2017
Christoph Becker